Freitag, 21. November 2008
Kleines Einmaleins der Filmkritik
Folgenden Text habe ich unter Zeit Online gefunden. Anlässlich der Vorlesung zum Web2.0 empfand ich dies als sehr passend und interessant:

http://www.zeit.de/online/2008/47/Filmkritik-heute?page=1

Der Filmemacher Christoph Hochhäusler über die Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens über Film im Internet. Ein Essay

Ein Rauschen umgibt uns. Ein geduldiger Teppich des Lärms, unter den wir die Welt kehren. Nur was spitz
ist, oder nah genug, uns zu treffen, darf hoffen, den Filz des Alltags zu durchstechen. Gemeint sind die
Medien, das "Lagerfeuer unserer Zeit". Bilder, Töne, Geschichten, Text. Nachrichten, die auf uns zukommen brandheiß oder abgekühlt und zugeschnitten für die "Zielgruppe".
Die Frage ist: Helfen sie uns, die Welt zu verstehen? Erreichen sie uns noch, außer als Geräusch?
Hinter jeder medialen Inszenierung muss die Frage stehen: Was ist wirklich? Hinter jedem Lesen:
Wahrnehmen. Dieses höchste der Gefühle aber ist per se Ausnahme, Unterbrechung, Erwachen.
Die Regel heißt Routine. Profis machen, was sie am besten können: Abschreiben. Zum Beispiel von der
Agenturmeldung. Von Google. Von Walter Benjamin. Aus dem Kulturkalender. Neuer Lack drüber und
fertig. Das geht ruck, zuck. Muss es auch.
Es entsteht der Eindruck oberflächlicher Information. Verknüpfungen, die nicht unbedingt falsch sind, aber
geschickt von der Tatsache ablenken, dass der Autor nicht weiß, was er sagen möchte. Der Autor füllt nur
noch einen vorher festgelegten Platz mit Worten aus. Zeilengeld. Ein Beitrag zum Grundrauschen.
Geschäftsmäßig.
Die Routine der Leser, Nutzer, Zuschauer ist nicht weniger ledern. Meistens filtern wir mit halbem Ohr das, was sich sozial verwerten lässt. Mitreden. Soziales Schmiermittel. Ballaststoffe. Austauschbar.
Seit ein paar Jahren gibt es Netzöffentlichkeit, in der sich - so das Vorurteil - schlampig schreiben und
schlampig lesen ideal ergänzen. Zahlenmäßig haben die Blogger, Fans, Exhibitionisten, die Selbstberufenen
und Ehrenamtlichen die alten Profis längst abgehängt. Das Netzvolk produziert tausendmal mehr content als
die bezahlten Schreiber womöglich mehr, als alles, was je geschrieben wurde zusammen genommen.
Was daraus folgt, ist unklar. Es fehlt nicht an Voraussagen. Vom "Untergang des Abendlandes" bis "Frieden auf Erden" ist alles dabei. Aber als gestern noch heute war, haben wir uns auch schon über das Morgen getäuscht. Lassen wir also das Spekulieren und verengen den Ausschnitt.
Ohne Auftrag schreiben
Ich bin Filmemacher, der durstig auf dem langen Weg zwischen Film und Film 2006 angefangen hat, einen
Blog zu betreiben. Parallelfilm heißt es. Ich notiere mir Gedanken, Ideen, berichte von meiner Arbeit und von
Aktivitäten anderer. Das alles ohne Zwang, ohne Regelmäßigkeit und ohne ein klares Bewusstsein von einem Gegenüber. Manchmal kommt es zu Berührungen, ein Eintrag zieht Kreise, jedes Mal unerwartet eigentlich.
Wenn sich nach besonders schönen Einträgen niemand rührt, schmolle ich und mache lange nichts.
Selten nur schreibe ich über einzelne Filme. Ich bin kein Kritiker und will nicht in das Fahrwasser des
Urteilens kommen. Außerdem gibt es automatisch eine größere Sorgfaltspflicht, wenn man über die Arbeit der
Kollegen schreibt. Das heißt, eine Kritik würde in Arbeit ausarten. Anfang, Mitte, Ende, Hand und Fuß während man in einer Anmerkung, einem Gedanken, einer Beobachtung in 3 bis 30 Zeilen sehr viel mehr
offen lassen kann. Ich glaube, so geht es vielen, die "ohne Auftrag" schreiben.
Weil man spürt, dass das Mitteilungsbedürfnis in den meisten Blogs unberührt von kommerziellen Absichten
ist, empfinden viele Leser diese munter sprudelnden Quellen des Wissens, der Meinung und Beobachtung als Erfrischung. Wer mitsprechen möchte, muss keine Leserbriefe schreiben, die womöglich nie gedruckt werden, sondern kann sofort in gleicher Münze zurückschreiben, widersprechen, sich einmischen.
Das führt zu einer Menge Unkraut, das Tag für Tag gejätet sein will, wenn man zu den wilden Erdbeeren
möchte. Aber so ist in den letzten Jahren eine neue Blüte diskursiver Cinephilie entstanden, ein Netzwerk
Interessierter, die sich zwar nicht unbedingt persönlich kennen, aber mit ihren Kenntnissen solidarisch umgehen.
Ich lese mehr oder weniger jeden Tag in Blogs und möchte es auch nicht mehr missen. Natürlich bleibt das nicht ohne Konsequenz für meinen Zeitungskonsum. Ich lese insgesamt weniger auf Papier, selektiver und kritischer.
Viele "Neuigkeiten" der Tageszeitungen haben durch den Vorsprung der Gerüchtebörsen schon einen Bart,
wenn sie erscheinen. Fehler fallen schneller auf, weil Agenturticker und Archiv kein Privileg der Journalisten
mehr sind. Auch eingedenk der Tatsache, dass die meisten Internetseiten ihrerseits nur Informationsrecycling betreiben, ist der auf Fakten bezogene Wissensvorsprung der Printmedien wohl für immer verloren.
Umso mehr vermisse ich in den Zeitungen und Magazinen lange Texte, tief schürfende Recherchen, genaue Beschreibungen, das Insistieren auf größere Zusammenhänge. Kurz, alles das, was das Netz der Freiwilligen nicht ersetzen kann.
Leider agieren die wenigsten Zeitungen selbstbewusst in dieser Hinsicht. Im Gegenteil. Immer öfter lassen sie
sich dazu hinreißen, den "elektronischen Feind" zu imitieren, zum Beispiel indem sie über noch ungedrehte
Filme spekulieren ("vielleicht ein Meisterwerk") oder fahrige Texte im Blogstil veröffentlichen. Die Entwicklung erinnert an die Anpassung nach unten im deutschen Fernsehen, nach Einführung der
Privatsender.

Die Bedingungen der Filmkritik

Man schreibt immer "unter Bedingungen". Die der Filmkritik in Deutschland sind schon lange prekär. Um
mit Joe Hembus zu sprechen: Die deutsche Filmkritik kann gar nicht besser sein denn sie steht von allen
Seiten unter Druck. Nach innen, weil die wenigsten Filmkritiker gut leben können von dem Zeilengeld, das sie als freie Autoren erwirtschaften. Weil Filmkritik in den meisten Redaktionen als Störung einer kommerziellen Doppelstrategie gesehen wird, nämlich Anzeigenkunden und Lesern gleichermaßen zu gefallen. Weil Film so populär ist, dass
jeder glaubt, mitschreiben zu können, zum Beispiel der ahnungslose Chefredakteur einer großen
Tageszeitung. Weil das Tages− oder Wochenformat der Medien (und der Kinos) Filme, Themen und Jubiläen diktiert, bis der letzte Funke eigener Impulse vernichtet ist.
Nach außen, weil die deutschen Kinogänger seit jeher auf breite Unterhaltung schwören. Weil
Kinoaktivierung hierzulande fast immer bedeutet: "wichtiges Thema" und nicht "guter Film". Weil es auf dem gesellschaftlichen Parkett, in Politik, Wissenschaft und "Hochkultur", unwichtig ist, ob man das kleine Einmaleins des Kinos kennt. Weil große Verleiher das gewünschte Medienecho bevorzugt über Kontroversen steuern. Weil die Grenzen zwischen Marketing und Gehirnwäsche fließend sind. Und so weiter, und so weiter. Eine Werkstatt der Begriffe Professionelle Online−Journalisten, die es ja auch gibt, sind im Vergleich zu den Papierkollegen meist bescheiden bezahlt. Oft genug ist auch ihr Arbeitsplatz mehr oder weniger virtuell, das heißt, sie schreiben zu Hause. Wenn sie entlassen werden, fällt das gar nicht erst auf. Viele der hochherzigen journalistischen Ideale lassen sich unter diesen Umständen nicht verwirklichen.
Insbesondere mit der Unabhängigkeit gegenüber den Machtpolen der Branche ist es im Filmjournalismus
nicht weit her, egal ob Print oder online. Investigativer Journalismus, der zum Beispiel nach der Realität der Förderung und Subventionspolitik fragt, existiert praktisch nicht.
Eine genaue Auseinandersetzung mit dem Wirtschaften der öffentlich rechtlichen Sender ist so lange die Ausnahme, wie sie nicht die Interessen der Zeitungen als Konkurrenten berührt. Als es kürzlich um die Spielräume ging, die man den Fernsehanstalten online gestatten sollte, war plötzlich allerhand Kritisches zu lesen über ARD und ZDF. Schade, dass der Zusammenhang so durchsichtig war, denn natürlich haben die
Gebührengiganten Kritik verdient.
Aber auch die erste Disziplin der Filmkritik, die ästhetische Analyse, lässt oft zu wünschen übrig.
Besonders die Lektüre der Pressehefte verdirbt einem den Magen für viele Besprechungen, die nicht viel mehr als ein Potpourri vorproduzierter Meinungen zubereiten. Oft vermittelt der Leseeindruck eine Nähe zu Regisseur oder Star, die direkt aus dem Presseheft gepflückt ist. Diese Pressehefte werden nicht umsonst von Kollegen mundgerecht aufbereitet. Jedes übernommene Zitat ist ein Punkt für das Marketing. Auch die dort veröffentlichten Inhaltsangaben werden gerne übernommen. Sind sie fehlerhaft, schleppt sich ein Missverständnis unter Umständen bis ins Filmlexikon weiter. Dieser Lobbyismus ist so erfolgreich, dass er niemandem mehr auffällt. Aber was soll Kritik leisten? Kritik kann und muss verschiedene Horizonte abdecken. Zuallererst ist sie aber eine Werkstatt der Begriffe.
Ich erwarte vom Kritiker Werkzeuge, Denkfiguren, Modelle, mit denen ich mit Filmen oder allgemeiner mit
sozialen und ästhetischen Phänomenen umgehen kann. Natürlich lässt sich im Tagesgeschäft schwerlich eine große Theorie entwickeln, sehr wohl aber können die Zugriffe eines Kritikers unsere Wahrnehmung schärfen. Im besten Fall lernen wir nicht nur einen Film, sondern auch unser Leben neu zu sehen. Das ist viel verlangt,
aber denken wir an die Texte von Serge Daney, Frieda Grafe, Pauline Kael oder François Truffaut, um hier ein paar Klassiker zu nennen, die heute so frisch sind wie je.

Texte statt Bilderfallen
Wo bleibt das Happy End? Ich denke, die "Rettung" kommt tatsächlich von den Lesern, die mittels der neuen Beweglichkeit im Strom des Wissens zur "Direktwahl" übergehen. Nicht mehr die ganze Zeitung ist gefragt, nicht mehr die pauschale Kaufentscheidung, sondern der einzelne, gute Text, der Autor, der genauer hinsieht und das stimmigere Bild findet, wird gelesen. Natürlich wird es immer Zeitungen, Portale, Plattformen geben, die mehr Qualität organisieren können als andere.
Aber auch wenn die unter den Netzablegern der deutschen Tageszeitungen üblichen Bilderfallen ("Geschichte des FKK") die Ergebnisse nach Kräften verzerren: Noch nie gab es eine so direkte Möglichkeit, gutes Schreiben zu belohnen. Noch nie gab es eine so einfache Teilhabe an weltweiten Diskursen. Noch nie gab es so viel enthusiastisches Publizieren als Gegengewicht zum Zynismus der alten Profis.

Das Netz ist, alles in allem, eine große Chance für den Qualitätsjournalismus. Eine Herausforderung. Und ein
Anlass, sich auf die eigenen Stärken zu besinnen.

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